Kompass-newsletter Nr. 117 - 09/2023

 

Rekord-Ankunftszahlen auf Lampedusa +++ Urgent Warning - Erklärung zur Seenot Rettung +++ Am 17. September in Calais: Demonstration gegen neuen Abschiebeknast +++ Darmstadt: Kirchenasyl erfolgreich verteidigt - 40 Jahre Kirchenasyl +++  Dublin-Regelung: In 2023 bislang keine Rückschiebungen nach Italien +++ Anti Frontex Aktionstage in Dakar +++ Evros: the brutal face of the European border regime - Bericht des Alarm Phone +++ Moving on - Echoes No. 7 +++ Medico Gutachten: Türkei kein sicherer Drittstaat +++ Rückblicke: One year after the Melilla massacre of 24 June 2022: CommemorActions in Melilla and Tanger; Noborder Camp Niederlande; 1. - 3. September in Leipzig: Treffen von Welcome United ++ Ausblicke: 3. und 11. Oktober: 10 Jahre nach den Schiffsunglücken 2013; 27. - 29. Oktober in Bologna: nächstes Treffen der Transnational Social Strike Platform

Liebe Freundinnen und Freunde.

Am Freitag, dem 25. August 2023 sind 64 Boote aus Tunesien und Libyen auf Lampedusa angekommen, am Tag darauf gab es weitere 53 Anlandungen. Das sind nochmal neue Rekordzahlen, mit denen sich die Ankunftszahlen für Italien in 2023 auf ca. 115.000 Geflüchtete und Migrant:innen erhöhen. Damit sind bis Ende August bereits mehr Menschen angekommen als im gesamten Jahr 2022. Trotz und gegen Meloni und ihre postfaschistische Regierung! Trotz und gegen die Billion Euro, mit der die EU unter Führung von von der Leyen den tunesischen Autokraten Kais Saied zur noch brutaleren Migrationskontrolle einkaufen will! 

Angesichts dessen erscheinen die aktuellen Versuche des italienischen Innenministers Piantedosi und seines ihm untergebenen Infrastrukturministers Salvini, die zivile Flotte der Rettungsschiffe mit immer neuen Anweisungen und Dekreten zu schikanieren und zu kriminalisieren, fast schon verzweifelt. Sie wissen genau, dass nur fünf bis sieben Prozent der Ankünfte mit zivilen Rettungsschiffen erfolgen, die übergroße Mehrheit wird von der italienischen Küstenwache wenige Kilometer vor Lampedusa aufgegriffen oder sie landen gänzlich autonom an der Küste an. Doch es geht offensichtlich einerseits darum, den eigenen Wählern zumindest in der Auseinandersetzung mit den NGOs Handlungsfähigkeit vorzugaukeln, und andererseits um eine Schwächung der wichtigen Funktion des Monitoring und der öffentlichen Dokumentation von permanenten Menschenrechtsverletzungen auf See. 

In einer „Urgent Warning“ fordert ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis das Ende der neuerlichen Repressionen. Zitat: „Während jedes Rettungsschiff dringend benötigt wird, um den weiteren Verlust von Menschenleben auf der tödlichsten Migrationsroute der Welt zu verhindern, behindern EU-Mitgliedsstaaten – allen voran Italien – aktiv die zivilen Such- und Rettungsbemühungen.(…) Alle zivilen Rettungsschiffe müssen sofort freigelassen werden und alle damit verbundenen Geldstrafen müssen fallen gelassen werden. Das italienische Gesetz, das die Such- und Rettungsaktivitäten von Nichtregierungsorganisationen im zentralen Mittelmeer einschränkt, muss sofort aufgehoben werden. Stattdessen muss das geltende internationale See- und Menschenrecht der Rahmen für alle Akteure auf See sein.(…) “ Apropos Civil Fleet: Für alle, die einen Überblick gewinnen wollen: auf https://civilmrcc.eu/ findet sich eine Karte mit allen aktiven Seenotrettungsorganisationen im zentralen Mittelmeer.

Weil die Ankommenden immer noch durch den zeitweise völlig überfüllten Hot Spot, das geschlossene Lager auf Lampedusa, geschleust werden, kommt es immer wieder zu unerträglichen Situationen. Zudem gibt es Berichte, dass unmittelbar nach den Transfers nach Sizilien insbesondere tunesische Staatsangehörige ausgesondert und zur geplanten Abschiebung in Haft genommen werden. Das unwürdige Aufnahmesystem und einzelne Abschiebungen sollten aber nicht überdecken, dass die überwiegende Mehrzahl der People on the Move in den letzten Wochen und Monaten schneller denn je durch diese gefährliche Passage gelangen. Einige berichten, das sie es von Sfax nach Marseille oder Paris in fünf Tagen geschafft haben. 

Für alle in Italien Angekommenen, die in andere Länder innerhalb der EU weiterreisen wollen, gibt es eine zusätzliche gute Nachricht, die den Widersprüchen mit rechten Regierungen in der EU geschuldet ist. Meloni weigert sich, Rückschiebungen nach Italien zu akzeptieren, Dublin-Italien ist damit faktisch zusammengebrochen. Dazu ein Zitat aus dem Tagesspiegel: „Nach den Angaben des Innenministeriums-Sprechers erfolgten in diesem Jahr bis Juli nicht mehr als neun Dublin-Überstellungen nach Italien. Es handelte sich hierbei laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) um Überstellungen, in denen die betroffenen Personen freiwillig und eigenständig nach Italien reisten.“

Auch wenn es bis auf Weiteres keine Dublin-Abschiebungen nach Italien gibt, die Dublin-Regelung insgesamt ist damit längst nicht hinfällig. Im Gegenteil kommt es bisweilen zu neuen aggressiven behördlichen Maßnahmen, um Menschen mit Erstregistrierung und Fingerabdrücken in Bulgarien, Kroatien oder Österreich dorthin zurückzuschieben. Unlängst gab es sogar den Versuch, einen syrischen Schutzsuchenden in einem Kirchenasyl in Darmstadt zur Ausreise nach Malta zu nötigen. Doch eine breite zivilgesellschaftliche Solidarität hat dieses bürokratisch-rassistische Ansinnen im Ansatz verhindert.  

Während an Italiens Südgrenzen den Migrationsbewegungen ein gewisser Durchbruch gelungen ist, stellt sich die Situation in der Ägäis anhaltend blockierender dar. Auf See in den griechischen Rettungszonen und selbst nach Anlandungen auf den griechischen Inseln sowie auch am Evros, am Grenzfluss zur Türkei: entlang der gesamten Grenze dominieren brutalste Push-Backs der griechischen Grenztruppen den Alltag. Mit aller, häufig tödlicher Gewalt werden Schutzsuchende am Fluss zurückgeprügelt oder auf dem Meer ausgesetzt. Seit dem großen Shipwreck von Pylos, bei dem mehr als 600 Menschen ihr Leben verloren, scheint es das Bemühen seitens der griechischen Küstenwache zu geben, auch ab und an Rettungen zu präsentieren. Somit sind wieder mehr Ankünfte in Griechenland zu verzeichnen und die Ankunftszahlen sind in den letzten Monaten insgesamt höher als im Vergleichszeitraum in 2022, doch immer noch auf sehr niedrigem Niveau. Es bleibt zu beobachten, in welche Richtung die weiteren Entwicklungen gehen und das wird mit Sicherheit auch davon abhängen, wie weiterhin Druck aufgebaut wird, damit die menschenverachtende Gewalt and den Grenzen ein Ende hat. Ein wichtiger Akteur bleibt hier das Alarm Phone, das die permanenten Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und die Menschen in ihren zum Teil wochenlangen Kämpfen um Zugang zum Asylsystem unterstützt. 

Schließlich zur westlichen Route aus und über Marokko. Hier sind die Ankunftszahlen in etwa auf dem Vorjahresniveau, und über 10.000 Menschen haben es in den ersten acht Monaten in 2023 über die lange und gefährliche Atlantikroute auf die kanarischen Inseln geschafft. Hier verschwinden allerdings immer wieder Boote, die Dunkelziffer an Ertrunkenen und Vermissten bleibt besonders hoch. Vor dem Hintergrund des rassistischen Massakers bei Melilla im Juni 2022 - siehe dazu auch den Link zu den Gedenkaktionen unten - haben es in diesem Jahr weitaus weniger Menschen über die Landesgrenzen der beiden spanischen Enklaven versucht. 

Bekanntlich greift das EU-Grenzregime im westlichen Afrika bis in den Senegal aus: mittels Überwachungs- und Visamaßnahmen sowie mit Charterabschiebungen, die allesamt von Frontex koordiniert werden. Umso bedeutender, dass Mitte August die antirassistische Gruppe Boza Fii in Dakar lokale Aktionstage unter dem Titel „Push Back Frontex“ organisiert hatte. 

In diesem Sinne mit transnationalen solidarischen Grüßen,

das Kompass-team