Kompass – AntiRa – Newsletter Nr. 71, Juli/August 2018
+++ Gegen die Achse der Schande: Für Offene Häfen und Solidarische Städte +++ Seebrücken: Tausende auf den Strassen und Demonstrationen gehen weiter +++ Ab 23.7. quer durch Deutschland: Women in Exile on Summer-Tour +++ Ab 23.7. in vielen Städten: Film zur Iuventa/Kriminalisierung von Jugend Rettet +++ Am 24./25.8. in Hamburg: große Ballhaus Versammlung und bundesweites Koordinationstreffen von We`ll Come United +++ Ab 29.8. in Frankfurt: Yallah-Ausstellung und Veranstaltungen +++ Alarm Phone mit unzähligen Anrufen von Booten aus Marokko +++ (Ketten)Push Backs von Slowenien und Kroatien nach Bosnien +++ Kalender im September: von Schutzräumen für Solidarische Städte bis zur großen We`ll Come United Parade am 29.9. in Hamburg +++ 20.9. in Salzburg: Demo gegen den Gipfel der Abschottung und sozialen Kontrolle +++ Rückblicke: Summercamp We`ll Come United, Internationale Demo in Ventimiglia +++ Ausblicke: 13.10. in Karlsruhe: Landesweite Demo gegen Nationalismus, Rassismus, Abschiebung; Transnational Social Strike Treffen im November 2018 in Stockholm +++
Liebe Freundinnen und Freunde,
zunächst kurz in eigener Sache. Die Sommerausgabe des Kompass kommt diesmal etwas verspätet, dafür etwas „dicker“ und der nächste Newsletter soll bereits Ende August erscheinen. Denn wir hoffen und wollen mitwirken, dass sich der September zu einem besonderen Monat vielfältiger und dynamischer Initiativen gegen Rassismus und Ausgrenzung und für Bewegungsfreiheit und gleiche Rechte auswächst. Eine erste Vorschau findet sich unten im Kalender: von dezentralen Aktivitäten zum dritten Jahrestages des „March of Hope“ ab 4.9. bis zur großen We`ll Come United Parade in Hamburg am 29.9.!
Schlimmer geht immer?
Im März, nach dem rechten Wahlsieg in Italien, hatten wir die „Achse der Schande“ bereits thematisiert: Salvini, Kickl, Seehofer… In den letzten Wochen hat die Realität nun im Eiltempo alles überholt, was zu befürchten war. Die zivile Seenotrettung im zentralen Mittelmeer wird brachial stillgelegt und kriminalisiert, das Ertrinken-Lassen offensiver denn je als Abschreckungsstrategie gerechtfertigt. Vorverlagerung der Lager nach Albanien oder Nordafrika, neue Grenzkontrollen, Ankerzentren, Schnellverfahren und Massenabschiebungen - die Riege der Innenminister galoppiert mit Schaum vorm Mund voran. Das Horrorkabinett fühlt sich getragen von rassistischen Stimmungen und sie sitzen an den Schalthebeln der Macht, um mit neuen Verordnungen die Ausgrenzungspolitik auf allen Ebenen zu eskalieren. Rast dieser Gespensterzug immer weiter in Richtung „Orbanisierung“? Kann sich ein Innenminister dauerhaft halten, der die Abschiebung von 69 Menschen in den Krieg nach Kabul als Geschenk zu seinem 69sten Geburtstag zelebriert?
Von der Empörung zum Widerstand?
Zweifellos, wir befinden uns mehr denn je in der Defensive, in Abwehrkämpfen gegen das Roll Back dessen, was sich bis 2015/16 im Zusammenspiel von selbstorganisierter Flucht- und unterstützender Willkommensbewegung quer durch Europa entwickelt hatte. In der gesellschaftlichen Polarisierung erscheint der aggressive rechte Populismus immer lauter und durchsetzungsfähiger. Doch schon vor einigen Wochen keimten Hoffnungen für einen „Anti-Trump-Effekt“ auf. Einzelne Stimmen der Empörung haben sich spätestens mit der inszenierten Regierungskrise durch Seehofer zu einem Chor der Kritik auch in den Mainstream-Medien verdichtet. Seehofer scheint sich verkalkuliert zu haben, die Welle von Salvini zu reiten. Und die Ansätze einer Gegenbewegung gegen die rassistische Offensive haben sich mittlerweile zu beachtlichen Mobilisierungen gemausert, in Deutschland, in Italien und quer durch Europa.
Von Palermo bis zu Seebrücken…
Erwähnen wir einige wichtige Momente der letzten sechs Wochen: Anfang Juni bestätigt der Bundesparteitag der Linken seine Forderung nach Offenen Grenzen, Sarah Wagenknecht ist mit ihrem Rechtskurs innerparteilich isolierter denn je. Als am 10. Juni der italienische Innenminister Salvini die Schließung der Häfen für die Rettungs-NGOs verkündet, protestieren Tausende in italienischen Städten, darunter zahlreiche Bürgermeister wie Leoluca Orlando für Palermo und De Magistris für Neapel. Mitte Juni erscheint der Aufruf „Solidarität statt Heimat“, den binnen zwei Wochen über 15.000 Menschen unterzeichnen. Ende Juni demonstriert die linke Stadtregierung von Barcelona praktische Solidarität mit der Seenotrettung und auch der Senat des rot-rot-grün regierten Berlin findet klare Worte für die Aufnahme von Geflüchteten. „Seebrücken statt Seehofer“ wird ab 7. Juli zum zentralen Slogan einer Protestwelle, die zunächst in Berlin, Hannover und Frankfurt Tausende auf die Strassen bringt und bis heute nicht abebbt, sondern sich in zahlreichen Städten mit lokalen Demonstration fortsetzt. Am 14. Juli demonstrieren Tausende in Ventimiglia an der italienisch französischen Grenze für offene Grenzen. Am gleichen Tag rufen in Palermo der Bürgermeister und der Erzbischof zum Festtag der Schutzheiligen St. Rosalia - mit 400.000 Menschen auf den Strassen! - gemeinsam zur Öffnung der Häfen und für die Seenotrettung auf. Am 19. Juli lädt der Bürgermeister von Neapel zu einer Konferenz ein, in der die Öffnung der Häfen gefordert und Salvini als Verbrecher bezeichnet wird, der vor Gericht gebracht werden soll (Nur einen Tag zuvor hatte das Rettungsschiff Open Arms dokumentiert, dass die sogennante libysche Küstenwache drei Menschen auf einem zerstörten Schlauchboot allein auf See gelassen hatte, nur eine der Personen konnte lebend geborgen werden). Am 22. Juli demonstrieren in München trotz strömendem Regen bis zu 50.000 Menschen mit „ausgehetzt“ gegen Rassismus und für sichere Fluchtwege…
September-Offensive?
Die Aufschreie und Proteste müssten freilich noch lauter, breiter und beständiger sein, um die repressiv-rassistische Dominanz zu brechen. Doch dass sich trotz Sommerpause so vieles regt, in Italien wie in Deutschland, erscheint als gutes Zeichen und zeigt: da geht noch weit mehr! Der September bietet reichlich Gelegenheiten, von lokal bis bundesweit. Und von besonderer Bedeutung erscheint, dass sich die neue (und noch ziemlich „weiße“) Seebrücken-Initiative verstetigt und spätestens am 29.9. in Hamburg mit We`ll Come United zusammen kommt. 25 Busse sind bereits für diese große Parade gebucht, in erster Linie selbstorganisierte Geflüchtete und MigrantInnen werden hiermit anreisen. Das ließe sich locker verdoppeln, wenn alle mitziehen. Machen wir den September zu einem Monat der Kämpfe für Bleiberecht und Bewegungsfreiheit. Mit den ungebrochenen Kämpfen der Migration als zentralem Bezugspunkt: an den Außengrenzen wie in den Innenstädten. Nutzen wir die Empörung und Proteste, um die Alltagsstrukturen auszubauen. Für Fluchthilfe und Schutzräume! Schaffen wir reale Korridore der Solidarität! Ob von Athen über Velika Kladusha/Bosnien bis nach Zürich, ob in den Booten von Tanger über Barcelona nach Amsterdam, ob aus dem zentralen Mittelmeer über Palermo bis nach Berlin: alle Fluchtrouten bleiben hartnäckig umkämpft. Oder um es mit den Überschriften zwei lesenswerter Veröffentlichungen zu sagen: die „Macht der Migration“ trifft, schafft und braucht „die utopische Kraft der Städte“!
Mit solidarischen Grüßen, die Kompass-Crew