Kompass - Antira-Newsletter Nr. 75 - Februar 2019

 

+++ From the Sea to the Cities, von den Booten in die Busse, von Syrakus nach Berlin?! +++ 1. und 2.2. in Berlin und Osnabrück, Mainz…: Gemeinsam für Familiennachzug und Grundrechte +++ 8.-10.2. in Frankfurt: Bundesweites Treffen von We`ll Come United +++ 1.2. in Paderborn und 9.2. in Frankfurt: Regionale Vernetzungstreffen zu 100 Jahre Abschiebehaft +++ Alarm Phone Report und Situation auf den Mittelmeerrouten +++ Zur Verurteilung der Stansted 15 wg. erfolgreicher Aktion gegen Abschiebungen +++ Im Kreis - Film gegen die Abschiebungen nach Afghanistan +++ Neue Initiative und Online-Plattform: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?! +++ Lesehinweis: „Lachen gehört zu einer freien Gesellschaft - Warum Islamismus Freiheit tötet und Flucht kein Verbrechen ist“ +++ Rückblick: Oury Jalloh Demo +++ Ausblicke: 10.-12.5. in vielen Städten: Aktionstage zu 100 Jahren Abschiebehaft; 17.-19.5. in Hamburg: Recht auf Stadt Forum; 31.8. in Büren: Grossdemo gegen 100 Jahre Abschiebehaft; im August: Mobilisierungen nach Sachsen +++

Liebe Freundinnen und Freunde!

Wir wollen Euch zunächst bitten, einen wunderbaren 3-minütigen Video Clip aus Neapel anzusehen: https://www.facebook.com/aricco/videos/10216516674582370/  und diesen weiter zu teilen. Während wir an diesem Kompass arbeiten, hat der Bürgermeister von Syrakus den Hafen der Stadt für die Sea Watch geöffnet und in einem breiten lokalen Bündnis setzt er sich für die Aufnahme der Geretteten ein. Demonstrationen und Versammlungen finden in vielen Städten Italiens statt und Salvini erscheint erstmals seit dem Sommer 2018 angeschlagen. Wird es möglich sein, die Ausschiffung von Geflüchteten an einem italienischen Hafen durchzusetzen?  

From the Sea to the Cities  
Von der hohen See in die Städte, von den Booten in die Busse, von Palermo nach Berlin … Ließe sich eine transnationale Mobilisierung vorstellen, in der die Geretteten der Sea Watch in Syrakus, Neapel oder Palermo anlanden können und wir sie dann weiter in einem Korridor und einer Karawane der Solidarität nach Berlin oder andere Städte in Nordwesteuropa begleiten? Mit Busses of Hope in einem Convoy orange? Diese Fragen beschäftigt aus erneutem aktuellen Anlass viele, die aktiv sind in der Seenotrettung, in den Solidarity City Gruppen, in den Initiativen der Seebrücke.  Die Bürgermeister von Palermo und Neapel hatten es vor wenigen Wochen mit ihrer praktischen Bereitschaft vorgemacht. Sie kündigten offensiv an, ihre Häfen für die Seenotrettung zu öffnen und den Rettungsschiffen sogar mit stadteigenen Booten entgegenzukommen (siehe http://www.spiegel.de/politik/ausland/italien-die-front-gegen-matteo-salvinis-fluechtlingsgesetz-waechst-a-1246836.html). Selbst der Papst ergriff das Wort, und in den Tagen rund um den 6. Januar wurde bereits das ganze Potential zivilgesellschaftlichen Ungehorsams gegen das nationale und supranationale Ausgrenzungsregime spürbar. Mittlerweile haben sich 37 Städte in Deutschland zu „sicheren Häfen“ bzw. ihre Aufnahmebereitschaft für Geflüchtete und Gerettete erklärt (siehe https://seebruecke.org/startseite/sichere-haefen-in-deutschland/ ).

Sea Watch und Sea Eye hatten dennoch mit 49 aus Seenot geretteten Menschen bis zu 20 Tage auf See ausharren müssen, bevor sie dann nach einem fragwürdigen Deal in irgendwelchen EU-Gremien in Valetta anlanden durften. Die geretteten Geflüchteten sitzen bis heute in Internierungshaft auf Malta fest, um dann mit anderen in den letzten Wochen Geretteten auf sieben Länder verteilt zu werden, u.a. nach Rumänien. Und Menschen aus Bangladesh sollen gleich in ihr Herkunftsland abgeschoben werden.  

Die Herausforderung jetzt!
Praktisch zu demonstrieren, dass dies ganz anders geht. Nach den großartigen Demonstrationen und Mobilisierungen im Herbst könnten wir jetzt zeigen, wie ein „Aufstand der Solidarität“ konkret aussehen könnte. Trotz und gegen Salvini und Kurz und Seehofer die Aufnahme und Weiterreise durchsetzen. Einen Korridor der Solidarität in die Achse der Schande brechen. Zumindest zu versuchen, neue breite Mobilisierungen zu starten, die sich direkt auf die anhaltenden Fluchtbewegungen beziehen. From the Sea to the Cities! Und das im gesamten Mittelmeerraum. Denn Geflüchtete und MigrantInnen werden absehbar weiter versuchen, sich nicht nur von Libyen und Tunesien sondern auch von Marokko und Algerien sowie von der Türkei in die EU durchzuschlagen. Zwar waren es 2018 wesentlich weniger Menschen als in den Jahren 2014 bis 2017, die an den europäischen Küsten angekommen sind. Doch das Mittelmeer bleibt ein umkämpfter Raum, in dem die Bedeutung der Routen wechselt und sich jederzeit neue Dynamiken entwickeln können. Während die Zahlen in Italien mit ca. 23.000 Überquerungen oder Rettungen auf einen Tiefstand gefallen sind, blieben die Anlandungen in der Ägäis auf gleichem Stand wie letztes Jahr. Über 15.000 Menschen sitzen mittlerweile in den Hotspots auf den griechischen Inseln fest, in einer katastrophalen Situation mit ersten Kältetoten. Weitaus mehr Menschen als im Vorjahr schafften es, die türkisch-griechische Landesgrenze zu überqueren - trotz und gegen die systematischen Push-backs.  
Schließlich: die Zahl der „Bozas“, der erfolgreichen Grenzüberschreitungen von Marokko nach Spanien, hat sich im Vergleich zu 2017 auf fast 60.000 verdoppelt. Und das setzt sich auch in den ersten drei Wochen des neuen Jahres fort: im westlichen Mittelmeer sind die Ankünfte mit über 3500 Menschen im Vergleich zu  Januar 2018 erneut stark gestiegen (siehe https://data2.unhcr.org/en/situations/mediterranean ).

Rettungsketten der Solidarität
Dass solidarische Unterstützung nicht nur nötig sondern auch effektiv möglich ist, lässt sich im letzten Alarm Phone Report eindrücklich nachlesen:“ ´Es gibt keine Worte, die den Wert Eurer Arbeit, die Ihr leistet, angemessen beschreiben könnten. Es ist ein zutiefst menschlicher Akt und wird nie vergessen werden. Euer ganzes Team soll wissen, dass wir allen Gesundheit und ein langes Leben und die besten Wünsche in allen Farben der Welt wünschen.` Das sind die berührenden Worte, die das Alarm Phone vor einigen Tagen von einem Mann erhielt, der auf einem Boot im westlichen Mittelmeer unterwegs war. Unsere Schichtteams waren die ganze Nacht mit ihm in Kontakt geblieben, bis das Boot schließlich nach Spanien gerettet wurde. Er hatte seine Mitreisenden immer wieder beruhigt und damit Paniksituationen auf dem Boot verhindert. Seine Botschaft motiviert uns, auch 2019 alles in unserer Macht Stehende zu tun, um die Menschen zu unterstützen, die nur deshalb auf dem Meer unterwegs sind, weil das europäische Grenzregime sichere und legale Passagen verunmöglicht hat. Auf den verbliebenen gefährlichen Routen über See haben in diesem Jahr über 2.240 Menschen ihr Leben verloren. Während wir diesen Bericht schreiben, fahren 311 Menschen mit dem Rettungsschiff der NGO Proactiva Open Arms nach Spanien. Die Reisenden riefen unsere Hotline an, als sie in einem Bootskonvoi von Libyen aus gestartet waren. Basierend auf den Angaben über ihre Position, nahe Al-Khums, startete das zivile Aufklärungsflugzeug Colibri am Morgen des 21. Dezember eine Suchaktion und konnte den Konvoi der drei Boote finden, die schließlich von Proactiva Open Arms gerettet wurden. „Die erfolgreiche Rettungsaktion der 313 Menschen (eine Mutter und ihr Kleinkind wurden nach der Rettung mit einem Hubschrauber ausgeflogen) belegt das Potential der Kette der Solidarität, die AktivistInnen und NGOs im zentralen Mittelmeer geschaffen haben…“

How to stop Deportations?
Immer schwerer erscheint es gleichzeitig, der verschärften Abschiebepolitik einen effektiven Widerstand entgegenzusetzen. Der ausgebaute Apparat läuft schneller denn je, auch weil er auf vergleichsweise weniger Geflüchtete trifft. Die Androhungen, bei Kirchenasylen von Dublin-Betroffenen die Überstelllungsfrist auf 18 Monate zu verlängern, soll aufnahmebereite Kirchengemeinden einschüchtern. Das Bundesamt verliert zwar in aller Regel die entsprechenden Gerichtsverfahren, doch was interessiert die Rechtslage, wenn es um Abschreckung geht.  
Ob gegen Dublin-Abschiebungen oder ob gegen Sammelabschiebungen in die Herkunftsländer, die notwendige https://aktionbuergerinnenasyl.de bleibt bislang auf kleine Gruppen in zu wenigen Städten beschränkt. Zähe und mühselige Alltagskämpfe prägen diese Situation, in der Abgeschobene zurückzukommen versuchen oder sich über lange Zeit in ihren Communities verstecken müssen. Die Zahl der Illegalisierten hat sich quer durch Europa wieder massiv erhöht, und das Netzwerk der Solidarity Cities bleibt gefordert: in erster Linie im Auf- und Ausbau von Unterstützungs- und Weiterfluchtstrukturen.
 
Suchprozess mit antirassistischen Schwerpunkten
Apropos Alltagskämpfe: „Unser Ausgangspunkt sind die Kämpfe, in denen wir alltäglich stecken. Eine Dynamik gegenseitiger Ermutigung und nachhaltiger Veränderungen kann sich u.E. nur entfalten, wenn der Prozess von konkreten Alltagskämpfen ausgeht oder sich jedenfalls immer wieder darauf rückbezieht.“ Das formuliert eine neue themen- und spektrenübergreifende Initiative, die Mitte Januar in die interessierte Öffentlichkeit gegangen ist. Mehrere der beteiligten Gruppen haben ein explizit antirassistisches Selbstverständnis. „In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Mit dieser Frage starten wir heute unsere neue Online-Plattform: http://welche-gesellschaft.org/ … Ein gemeinsamer langfristiger Suchprozess, um eine alternative gesamtgesellschaftliche Erzählung zu entwickeln. Dazu laden wir ein.“ Wir empfehlen, diese Einladung anzunehmen :-)

Mit solidarischen Grüßen,
das Kompass-Team