Kompass-Newsletter No. 86 - 04+05/2020

 

Initiative 19. Februar in Hanau +++ Corona und die Aktualität gleicher Rechte +++ Rettungen und SterbenLassen im zentralen Mittelmeer: Alan Kurdi und WatchThe­Med Alarm Phone +++ Free El Hiblu 3-Kampagne gestartet +++ Leave no one behind und Berichte aus Griechenland +++ „Für das Recht zusammen zu sein“- Kampagne für Familienzusammenführung aus Griechenland +++ Struggles of women* on the move - Alarm Phone Bericht +++ Ägäis und westliches Mittelmeer/Marokko - Updates Alarm Phone +++ www.w2eu.info - New Style and Re-Launch of the Multilingual Webguide +++ „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?!“ - Rundbrief Nr.4 +++ Rückblicke: 6.-8.2. in Oujda +++ Ausblicke: Kampagne zum 8. Mai - Entnazifizierung jetzt!


LIEBE FREUNDINNEN UND FREUNDE!

aus bitterem Anlass starten wir in eigener Sache:
Im März hatten wir unseren Newsletter ausfallen lassen und jetzt sind wir nochmal später als gewöhnlich. Das hat für uns nur in zweiter Linie mit dem Virus und der allgemeinen Verlang­samung zu tun. Der erste Grund liegt noch kurz vor den einschneidenden Einschränkungen wegen Corona: die rassistischen Morde vom 19. Februar in Hanau. Vielen LeserInnen dürfte bekannt sein, dass der Kompass massgeblich aus dem kleinen Kreis von kein mensch ist illegal in Hanau produziert wird. Wir waren und sind von den Schüssen be- und getroffen. Es bleibt eine riesige Wunde aus Trauer und Trauma, mit der wir in unserer kleinen Stadt zu kämpfen haben. Einige von uns hatten in den letzten Monaten „MigrAntifa“ mit vorangetrieben und waren dazu viel in Sachsen und anderen Orten rassistischer Übergriffe unterwegs. Natürlich sind wir auch in Hanau selbst mit institutionellem Rassismus konfrontiert oder mit der AfD. Aber es hat sich vor dem 19.2. niemand von uns vorstellen können, dass es unsere kleine und so migrantisch geprägte Stadt in dieser Dimension treffen könnte. Ein Einschnitt in unserem sozialen und politischen Alltagsleben, mit dem wir noch lernen müssen, umzugehen. Dafür werden wir uns auch weiter Zeit nehmen und andere Dinge zurückstellen, wenn es uns nötig erscheint.
Die Initiative 19. Februar Hanau ist eine Form, mit der Katastrophe umzugehen. Hand­lungsmöglichkeiten gegen die Lähmung durch das Schreckliche zurückzugewinnen. Die Stim­men der Angehörigen und FreundInnen der Opfer sowie der Überlebenden hörbar zu ma­chen. Mit ihnen zu versprechen: Nichts wird vergessen. Mit allen Mitteln versuchen, eine lü­ckenlose Aufklärung zu fordern. Und schließlich die rassistische Hetze und das Klima zu be­kämpfen, die eine solche Tat möglich gemacht haben. „MigrAntifa“ wird in Hanau mit der Initiative 19. Februar demnächst eine neue Anlaufstelle bekommen.

Corona. Ja, es ist fürchterlich und bedrohlich für alle, aber wie immer: bei genauerem Hinse­hen trifft der Virus nicht alle gleichermaßen. Wer auf der Strasse lebt oder kaum oder kei­nen Zugang zu gesundheitlicher Versorgung hat, wer in Lagern mit vielen Menschen auf engstem Raum zusammenleben muss, wer eben keinen eigenen Garten oder gar ein Wochen­endhaus im Grünen hat - schnell wird klar, wie unterschiedlich Betroffenheit aussieht. Und dass der Kampf um gleiche Rechte akut bleibt.   
Abschiebungen sind zwar momentan ausgesetzt, doch was in Portugal möglich war - die Le­galisierung aller Geflüchteten und MigrantInnen im Angesicht der Viruskrise - erscheint in Germany nahezu undenkbar. Lager mit hunderten Menschen werden unter Quarantäne ge­stellt anstatt zu evakuieren und leere Hotels zu nutzen. Der Ausnahmezustand stellt die Aus­teritätspolitik auf den Kopf und mobilisiert nie dagewesene Milliardensummen, um die kapi­talistische Ökonomie irgendwie am Leben zu erhalten. Doch die dringend nötige Evakuierung der Lager bleibt aus, die Entrechtung der Ausgegrenzten und Prekären soll offensichtlich un­bedingt bestehen bleiben. In vielen Lagern kommt es zu selbstorganisierten Protesten, so wie schon die Corona-Information und Prävention in erster Linie eine Frage der Selbsthilfe und staatsunabhängiger solidarischer Strukturen war.  

„Leave no one behind“- mit diesem treffenden Slogan ist - unter den Bedingungen des Coro­na-Ausnahmezustandes - eine öffentliche Kampagne in Gang gekommen, um das zugespitzte Unrecht an den Außengrenzen und insbesondere in den Lagern auf den griechischen Inseln zu thematisieren und skandalisieren. Während im April und Mai rund 80.000 ErntehelferInnen aus Rumänien mit Charterflugzeugen auf hiesige Spargel- und Erdbeerfelder eingeflogen werden, dürfen nach zähem Ringen 50 (!) unbegleitete Minderjährige aus den EU-initierten Katastrophen-Hotspots in Griechenland nach Deutschland einreisen. Lässt sich die Funktion des Grenzregime in dieser Kombination von Ausbeutung und Ausgrenzung noch drasti­scher vorführen?

Unerträglich und unfassbar bleibt, was das Alarm Phone in den letzten Tagen im zentralen Mittelmeer erlebt und detailliert und öffentlichkeitswirksam dokumentiert hat: das erklärte Ertrinkenlassen durch Küstenwachen in Italien und Malta, und dann sogar Angriffe auf Flüchtlingsboote durch die AFM (maltesische Küstenwache). Was wir bisher in dieser Brutali­tät  nur in der Ägäis kannten und was dort seit März auch wieder zum Alltag geworden ist - gewaltsame Push-Backs der Boote, die in der Türkei gestartet sind - soll nun auch an den Boatpeople aus Libyen demonstriert werden. In Corona-Zeiten werden europäische Häfen zu „Unsafe Harbours“ erklärt und Geflüchtete aus Folterlagern unmittelbar dem Ertrinken preis­gegeben.

Das Recht auf Flucht und Migration in (Post-)Corona-Zeiten? Im Angesicht von Ausnahme­zustand und verschärfter Re-Nationalisierung scheinen unsere Kämpfe um Bewegungsfrei­heit und gleiche Rechte noch stärker in die Defensive gedrängt. Gleichzeitig zeigen sich mit dem Virus offener denn je neue Bruchstellen der angeblich neoliberal kapitalistischen Al­ternativlosigkeit. Die Ambivalenzen der aktuellen Umbrüche und damit auch die emanzipati­ven Chancen in und mit der neuen globalen Krise sind mittlerweile Thema in vielen spannen­den Texten und Debatten. Globales Recht auf Gesundheit, Aufwertung der Care-Ar­beiten, Bedingungsloses Gruneinkommen… um ein paar Punkte zu nennen.

„Die Solidaritäten, die wir heute knüpfen, werden die Grundlage sein für die Kämpfe um eine Neuordnung der Welt nach Corona. Entscheidend wird dabei sein, wie in ihnen die glo­bale Dimension der Krise auch global beantwortet wird, und ob in der Bearbeitung der sozia­len Frage nationalistische und antimigrantische Politiken gestärkt werden. Solidarität kann zur nationalen Volksgemeinschaft oder zu transnationaler Solidarität werden.“ Das formulie­ren Mario Neumann und Max Pichl Ende März sehr treffend in einem lesenswerten Artikel. Und davon ausgehend schreibt die Initiative „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?!“ in ihrem aktuellen Rundbrief: „Genau deshalb geben wir der Verstärkung und Vertiefung der Verknüpfungsprozesse diese zentrale Bedeutung. Gegenseitiges Wissen und Mitgefühl, voneinander lernen und respektvolles Streiten, Erfahrungen austauschen und gemeinsam kämpfen. In diesen lebendigen Prozessen entsteht und wächst Solidarität.“

In diesem Sinne,
die AntiRa-Kompass Crew

P.S.: Und jetzt etwas ausführlicher zu allen einleitend genannten Schwerpunkten.