Kompass-newsletter Nr. 100 - 12/2021+01/2022

 

Der Papst in Lesvos +++ Read our Stories-Watch our Videos–Listen our Voices: neue Webseite der Geflüchteten und Migrant:innen in Tripolis +++ Am 18.12. transnational in vielen Städten: Abolish Frontex +++ Am 17. und 20.12. in Wiesbaden: Weitere An­gehörige aus Hanau im Untersuchungsausschuss +++ Neue Zeitung von Afrique-Eu­rope-Interact +++ 7.1.2022 in : Oury Jalloh Demonstration - neues Gutachten! +++ https://feministasylum.org/ Europaweite Petition +++ Tod und Push-Backs im Är­melkanal +++ Alarm Phone: Western Med Report und Videoclip für Spenden +++ Me­dico: Zur Situation an der polnisch-weißrussischen Grenze +++ Migration Control mit monatlichem Newsletter und Einschätzung zum Koalitionsvertrag +++ Guardian zur Festung Europa +++ Rückblicke: Statement zur IMK, Rückholung nach Abschiebung aus Sachsen +++ Ausblicke: Freedom Conference für El Hiblu 3 Ende März 2022 in Malta; Transborder Summer Camp im Juli 2022

... Das Mittelmeer, das seit Jahrtausenden verschiedene Kulturen und ferne Länder zusammen­geführt hat, wird nun zu einem düsteren Friedhof ohne Grabsteine. Dieses große Wasserbecken, die Wiege so vieler Zivilisationen, sieht heute aus wie ein Spiegel des Todes. Lassen wir nicht zu, dass unser Meer (mare nostrum) in ein trostloses Meer des Todes (mare mortuum) verwandelt wird. Lassen wir nicht zu, dass dieser Ort der Begegnung zu einem Schauplatz von Konflikten wird. Lassen wir nicht zu, dass sich dieses "Meer der Erinnerungen" in ein "Meer des Vergessens" verwandelt. Bitte Brüder und Schwestern, lasst uns diesen Schiffbruch der Zivilisation verhin­dern! ..."

(Papst Franziskus, in Mytilene/Lesvos am Sonntag, 5. Dezember 2021)

 

LIEBE FREUNDINNEN UND FREUNDE,

 

dass wir unsere 100ste Ausgabe mit einem Zitat des Papstes einleiten würden, hätten wir uns vor fast 10 Jahren, als wir mit dem seit 2012 (fast) monatlich erscheinenden Kompass AntiRa Newsletter begonnen haben, wohl kaum vorstellen können. Und nicht leicht zu sagen, ob dies ein Fortschritt ist oder vor allem Ausdruck eines Rückschrittes.

Zweifellos ist bemerkenswert, dass aus dem Vatikan wiederholt eine derart starke Position für die Menschen auf der Flucht und gegen das Grenzregime eingenommen wird. Ende Okto­ber hatte Papst Franziskus aus Rom bereits mit klaren Worten und ausdrücklich für die Mi­grant:innen und Geflüchteten in Tripolis gepredigt. Jetzt dieser scharfe Appell an die Verant­wortlichen direkt in Lesvos.

In der Seenotrettung - insbesondere wenn Boote im zentralen Mittelmeer zwischen Malta und Italien von den dortigen Küstenwachen ignoriert und deren Hilferufe vom Alarm Phone per Twitter öffentlich gemacht werden - engagieren sich regelmäßig Akteure aus der katholischen Kirche in Echtzeit, zu­meist hinter den Kulissen. Bitter zu sehen, dass selbst dieser Einsatz oft nicht hilft und an den Mauern der EU-Abschre­ckungspolitik verhallt.

Doch es ist mehr als tröstlich und in vielen einzelnen Fällen entscheidend im um­kämpften Raum des Mittelmeeres, dass breite Allianzen Druck machen, anklagen, immer wieder skandalisieren, bis dann doch geret­tet werden muss. Im November - wegen des guten Wetters mit relativ vielen Abfahrten - hat die zivile Flotte einmal mehr mit ihrer Dauerpräsenz unter Beweis gestellt, dass es das „ci­vilMRCC“ ist - die Zusammenarbeit von Alarm Phone, den Kleinflugzeugen von Sea Watch und den unterschiedlichen NGO-Schiffen - das den Unterschied macht.

Ende Dezember 2021 wird das Alarm Phone über 350 Boote allein zwischen Libyen oder Tu­nesien und Lampedusa oder Malta unterstützt haben, mehr als doppelt so viele wie in 2020. Gleichzeitig gibt es wieder zunehmend Überfahrten von der Türkei aus bis nach Kalabrien und anhaltend von Marokko bzw. aus der Westsahara nach Spanien und auf die kanarischen In­seln. Die Atlantikstrecke ist allein schon wegen Wind und Wetter noch gefährlicher als die zentrale Mittelmeerroute - mit einer entsprechend hohen Rate an Ertrunkenen und Verschwundenen.

An der „deutschen Rückendeckung“ für die anhal­tenden Grenzverbrechen in Süd- und Osteuropa — ob in Griechenland, im Balkan oder in Polen - dürf­te sich mit der neuen Ampelregierung kaum etwas ändern. Dass die Sozialdemokraten eine Frau zur Bundesinnenministerin gemacht hat, die sich in den letzten Jahren nicht nur verbal sondern auch praktisch gegen die rechte, rassistische Gewalt ge­stellt hat - und in Hanau maßgeblich an der Einrich­tung des jetzt angelaufenen Untersuchungsaus­schusses beteiligt war - könnte zwar Hoffnungen wecken. Hoffnungen, dass die Zeit der re­pressiv-migrationsfeindlichen Innenpolitik eines Horst Seehofer und seiner Vorgänger end­lich Geschichte ist.

Doch wie die Erfahrungen immer wieder zeigen: Vorsicht ist angesagt, bei der SPD wie auch bei den Grünen, spätestens sobald sie an die Macht kommen. „Rückführungsoffensive“ ist nicht zufällig ein Terminus aus dem neuen Koalitionsvertrag, in dem die brutale Abschiebepo­litik fortgeschrieben werden soll. Dennoch sollte die antirassistische Bewegung - in all ihrer Breite - nichts unversucht lassen, neue Spielräume zu nutzen und jedenfalls die verbalen An­sprüche der neuen Regierung mit dem Unrecht der alltäglichen Abschiebungen und Ausgren­zungen zu konfrontieren.

Mit solidarischen Grüßen,

die Kompass-Crew