Kompass-newsletter Nr. 113 - 04/2023

 

Echoes No.5 +++ 4.4. und 28.4. in Würzburg: Veranstaltungsreihe Blackbox Abschiebung +++ 6. April: Online Vorbereitung zur Kampagne „Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen" +++ 21.4. in Wuppertal: Asylrecht ist Menschenrecht - Veranstaltung zu 25 Jahren Karawane +++ Starke Proteste in Frankreich gegen neues „Ausländergesetz“ +++ Forensic Architecture: New investigation on the fire in Moria +++ Central Med - Fatal Delays: 30 Lives Lost due to European Non-Assistance +++ Rückblicke: Zum Transnational Social Strike Treffen in Frankfurt; Ein Meer voller Tränen-Gedenkveranstaltung in Erfurt; 5 Jahre Abschiebehaft in Hessen - Knastbeben in Darmstadt; Solidarität mit El Hiblu 3 zum 4. Jahrestag in Malta +++ Ausblicke: 1. bis 6. Mai in Berlin: Camp gegen Abschiebungen und Abschiebeknast +++ 29. Juni bis 2. Juli in Brüssel: Mobilisierung von und mit Refugees in Libya

Liebe Freundinnen und Freunde,

direkt an der kalabrischen Küste der Kleinstadt Crotone sind am 26. Februar 2023 nahezu 100 Menschen ertrunken. Die aufgereihten Särge - und die Kindersärge - erinnerten sehr an Lampedusa im Oktober 2013. Nach 10 Jahren mit weiteren tausenden Opfern des EU-Grenzregime im Mittelmeer wirkte es fast etwas überraschend, dass es - zumindest in Italien - erneut zu einer starken Protest- und Empörungswelle kam. Die postfaschistische Regierung und die Küstenwache sind unter enormen Rechtfertigungsdruck geraten. 

Wir übernehmen dazu als Einleitung für den April-Kompass leicht gekürzt einen Text, der unlängst in „Echoes No. 5“ veröffentlicht wurde. In dieser ca. zweimonatlich erscheinenden Publikation des CivilMRCC - der zivilen Rettungskoordination im zentralen Mittelmeer - finden sich regelmäßig Chronologien dazu, wie Rettungsschiffe, Kleinflugzeuge und das Alarm Phone zusammenarbeiten und alltägliche Solidarität auf See praktizieren. In der aktuellen Ausgabe sind neben dem Text zu Italien zudem informative Artikel zur Situation auf Malta sowie in Tunesien abgedruckt, siehe https://civilmrcc.eu/echoes-from-the-central-mediterranean/echoes5-mar2023/  

Der Cutro-Effekt: Die Kämpfe für das Leben gegen die Politik des TodesVon Giuseppe Caccia, Mediterranea Saving Humans

Genau zwei Wochen nach dem Schiffsunglück von Cutro kam es zum nächsten Massaker. Während an der Küste Kalabriens die Leichen von bislang 79 Menschen - zumeist Frauen und Kinder, die am 26. Februar Schiffbruch erlitten hatten - geborgen wurden, kamen 330 Seemeilen entfernt am Morgen des 12. März weitere 30 Menschen ums Leben. Dies waren keine "tragischen Todesfälle“, sondern Massaker, die durch das Grenzregime und dessen kriminelles Management verursacht wurden. Nicht nur aus den historischen Gründen, die wir alle kennen - nämlich der Verweigerung der Freizügigkeit und dem Fehlen von legalen und sicheren Passagen für die Einreise nach Europa. Sondern gerade wegen der spezifischen Logik, die sich in den letzten Jahren etabliert hat.

Im Fall von Cutro hatte der "Kampf gegen die illegale Einwanderung" Vorrang vor dem Schutz des menschlichen Lebens auf See. Es ging um „Strafverfolgung“, d.h. um einen Polizeieinsatz auf See, statt um die sofortige Einleitung eines Such- und Rettungseinsatzes. Im Fall des Schiffsunglücks in internationalen Gewässern 110 Seemeilen nordwestlich von Benghazi kam es - unter dem mörderischen Vorwand der "libyschen SAR-Zone“ - zur unterlassenen Hilfeleistung und Verzögerung der Rettung, indem man darauf wartete, dass die so genannte libysche Küstenwache die Menschen abfängt und zurückschiebt. Denn dies ist und bliebt die erste Option der italienischen und europäischen Behörden gegenüber den aus diesem Land fliehenden Menschen.(…)

Die Reaktion der italienischen Zivilgesellschaft auf das Massaker war stark und breit gefächert und hat einen Trend des Widerstands verstärkt, den wir bereits im Konflikt um die zivile Rettung zwischen November 2022 und Januar 2023 festgestellt hatten. 

Zunächst einmal haben die lokalen Gemeinden in Kalabrien, die Bürger:innen und die Bürgermeister ihre Empörung über das Massaker zum Ausdruck gebracht. Statt der Normalisierung und der Gewöhnung an den Tod auf See, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, haben sie die offiziellen Versionen in Frage gestellt und die Überlebenden unterstützt. Die Familien der Opfer, Bürger:innen aus Pakistan, Afghanistan (hauptsächlich), Iran und Syrien, die aus ganz Europa nach Crotone kamen, um ihre toten Verwandten zu identifizieren und zu bergen, haben außergewöhnliche Stärke und Würde gezeigt und sich allen Versuchen einer Instrumentalisierung widersetzt. An ihrer Seite haben organisierte Netzwerke und einzelne Aktivisten unermüdlich daran gearbeitet, die von dem Schiffsunglück Betroffenen zu unterstützen und eine Gegenuntersuchung zu dem Massaker einzuleiten. Dies hat zu einer Klage wegen "unterlassener Hilfeleistung, Schiffbruch und mehrfacher fahrlässiger Tötung" geführt, getragen von Rechtsteams von 40 Organisationen, die in der Lage sind, die Verantwortlichkeit der italienischen Behörden zu dokumentieren. Eine weitere wichtige und in vielerlei Hinsicht neue Tatsache war die Reaktion der Journalisten der Mainstream-Medien, von denen viele die offizielle Version in Frage stellten und die Regierung aktiv angriffen.

All dies führte zu einer zweiwöchigen permanenten Mobilisierung, die sich über ganz Italien erstreckte, mit Dutzenden von Demonstrationen in Groß- und Kleinstädten, dem Protest gegen die Regierung mit dem symbolischen Werfen von Stofftieren auf die gepanzerten Autos der Politiker. Und am Samstag, den 11. März, der Marsch in Cutro, zu dem 10.000 Menschen aus ganz Italien anreisten, zusammen mit den Familien der Opfer und Überlebenden, mit dem Gedenken am Strand und dem Versprechen, gemeinsam zu kämpfen, um "das Massaker zu stoppen".

Zur gleichen Zeit, während des ersten Zeitfensters mit guten Wetterbedingungen, erreichten mehrere Tausend Menschen auf Dutzenden von kleinen Booten unabhängig voneinander Lampedusa und trotzten der rassistischen Politik des Regimes in Tunesien und der Gewalt auf See durch seine Marine. Auf der Insel fanden sie die übliche unwürdige Aufnahme durch das Hotspot-System und die absichtliche Desorganisation der Transferprozeduren auf das Festland vor (…).

In den Nachrichten dieser Stunden zeigt der "Cutro-Effekt" seine ganze Ambivalenz. Seine Richtung wird von der Fähigkeit abhängen, all dem, was sich in der italienischen (und europäischen) Gesellschaft an Widerstand bewegt, Kontinuität zu verleihen, einen weiteren qualitativen Sprung zu machen, indem man die politischen Allianzen stärkt und die operative Zusammenarbeit zwischen den Organisationen der Zivilen Flotte und denen, die für die Bewegungsfreiheit und die Grundrechte der Menschen kämpfen, verstärkt. Die Türen für die Kämpfe für das Leben gegen die Politik des Todes sind weit offen.

Mit solidarischen Grüßen

die Kompass-Crew